Laelia Goehr (1908-2002)

Zwischen 1933 und 1945 wurden tausende Künstlerinnen ins Exil gezwungen, um sich vor den Gefahren des wachsenden Nationalsozialismus retten zu können. Bis heute hinterlässt dies deutliche Spuren in der Kulturgeschichte, so sind viele der damals bekannten kunstschaffenden Persönlichkeiten in Vergessenheit geraten.

Im Rahmen der Ausstellung „Gerty Simon. Berlin / London. Eine Fotografin im Exil“ ruft die Liebermann-Villa eine fünfteilige Blogreihe ins Leben, welche fünf verschiedene Künstlerinnen vorstellt, die zu Zeiten des Nationalsozialismus aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Im vierten Teil blickt John March, Fotohistoriker, auf das Leben und Werk der Fotografin .

Please find the English version below.

Laelia Goehr

– John March

Die schreckliche Geschichte hinter Gerty Simons wiederentdecktem Werk, welches in der aktuellen Ausstellung der Liebermann-Villa gezeigt wird, erinnert in ihren Grundzügen an das gesamte fotografische Talent, welches in den 1930er Jahren aus Deutschland und Österreich hinaus und ins Exil gezwungen wurde. Noch bis vor kurzem verblieb die Arbeit und das Leben vieler geflüchteter Fotografinnen, die sich in Großbritannien niedergelassen haben, verborgen. Eine kürzlich in London stattfindende Ausstellung belebt biografische Exilnarrative wieder und zeigt fotografische Arbeiten neu, legt persönliche und berufliche Geschichten frei und feiert nicht nur das Werk der bekannteren Fotografinnen, sondern auch derjenigen, die wie Gerty Simon aus dem öffentlichen Blickfeld für lange Zeit verschwunden waren.[1]

Unbekannt, Portrait von Laelia Goehr, © Nachlass Laelia Goehr

Die Geschichten der zwanzig im deutschsprachigen Raum aufgewachsenen und später in England (hauptsächlich London) niedergelassenen Fotografinnen zeichnen ein komplexes Geflecht von Zwangsmigration unter unterschiedlichsten Umständen, zerrütteten Familien- und Berufsleben und dem Prozess des Neuanfangs in einem neuen Land. Einige der bekannteren Fotografinnen wie Edith Tudor-Hart, Gerti Deutsch und Lucia Moholy führten ihre frühe Auseinandersetzung mit der Fotografie in einem neuen Umfeld fort. Porträtistinnen wie Gerty Simon mit öffentlicher Bekanntheit in Berlin und Wien – man denke hier auch an Lotte Jacobi und Lotte Meitner-Graf – haben ihre Karrieren in New York bzw. London neu etabliert. Für andere war die Fotografie ein Beruf zweiter Wahl, nachdem ihre Hauptkarriere durch die Diskriminierung der Nazis beendet wurde. Einige junge Flüchtlingsfrauen in Großbritannien begannen erst nach ihrem Exil eine sehr erfolgreiche Karriere in der Fotografie.[2]

Zusammengenommen bietet die Arbeit dieser Fotografinnen einen einzigartigen Einblick in die Art und Weise, wie kontinentale Fortschritte der Fotografie in Theorie und Praxis in eine konservativere britische Bildkultur integriert wurden. Die Vielfalt der Genres, in denen sie arbeiteten – Porträts, Sozialdokumentation und dem kommerziellen Bereich – erzeugten auch Bilder, die sowohl für das Deutschland der Weimarer Zeit (und Österreich) als auch für das Großbritannien der Kriegs- und Nachkriegszeit resonant waren.

Laelia Goehr, Straßenfotografie, © Nachlass Laelia Goehr

Eine wenig bekannte fotografische und kulturelle Persönlichkeit, die sowohl den Geist des Weimarer Berlins als auch des Großbritanniens der Nachkriegszeit verkörperte, ist Laelia Goehr. Die gebürtige Kiewerin kam 1919 mit ihrer Familie als Schülerin nach Berlin, um dem Chaos und den Gefahren der russischen Revolution zu entfliehen. Aufbauend auf ihrer klassischen Ausbildung als Pianistin schrieb sie sich an der Hochschule für Musik ein, die sie 1929 schließlich abschloss. Parallel zu ihrer klassischen Musikausbildung startete sie mit Rosa Goldstein, einer weiteren talentierten, jungen Musikerin, eine erfolgreiche Karriere im Kabarett. Als „Lil and Peggy Stone“ oder „The Stone Sisters“ auf Tournee, spielten und sangen sie amerikanische Popsongs, Ragtime und Dance Music und erlebten eine blühende Karriere, die ihnen regelmäßige Arbeit in den vielen Kabarettlokalen in Berlin und anderen großen Städten Europas einbrachte.

Laelia Goehr, Margot Fonteyn und Rudolf Nureyev, © Nachlass Laelia Goehr

1930 traf und heiratete Laelia Walter Goehr, einen etablierten Berliner Musiker mit herausragenden Rollen als Komponist, Dirigent und Arrangeur in klassischen und populären Genres. Seine Arbeit bei Radio Berlin und die Anstellung als Komponist und Dirigent in der Theatergruppe von Erwin Piscator, in der auch Laelia spielte, sowie seine jüdische Herkunft machten ihn nach der Machtübernahme der Nazis zu einem gefährdeten Mann. Faktisch arbeitslos nahm er ein Jobangebot in London an und gemeinsam mit ihm begann Laelia ihre zweite Exilerfahrung.

Laelia Goehr, Bill Brandt with his Kodak Wide-Angle Camera, © Nachlass Laelia Goehr

Mit einem langjährigen Interesse an der Fotografie begann Laelia schließlich, sich jenem Medium zu widmen. Sie fertigte zunächst Porträts von Soldaten aus Kriegszeiten an und unter der Mentorschaft von Bill Brandt entwickelte sich daraus eine erfolgreiche Karriere. Ihre Arbeit, die auch massenhaft in den illustrierten Zeitschriften jener Zeit veröffentlicht wurde, umfasste verschiedene Genres, darunter Porträts, Tier- und Pflanzenabbildungen und das Fotografieren von Musikern bei der Arbeit. Zudem arbeitete sie mit bedeutenden Schriftstellern an Fachbüchern über Tiere und veröffentlichte am Ende ihres Berufslebens auch Bücher über ihre Fotografien von Musikern. 1965 fotografierte Laelia den Komponisten Igor Strawinsky während der Proben in der Royal Festival Hall in London bei seinem letzten Besuch in Großbritannien. Ihre Fotografien wurden später in einer Reihe von Städten ausgestellt, darunter in Los Angeles in einer Ausstellung anlässlich des 100. Geburtstags von Strawinsky (1968) und im Victoria and Albert Museum, London (1982), wo der begleitende Katalog als Strawinsky Rehearses Stravinsky veröffentlicht wurde. Ihr Buch Musicians in Camera (1987) mit einem Vorwort von Sir Yehudi Menuhin enthält 77 Fotografien führender Weltgrößen der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts.[3]

Laelia Goehr, Sir Yehudi Menuhin, © Nachlass Laelia Goehr

Dieses kurze Porträt zeichnet ein Leben und eine Karriere auf, die fast vergessen waren, hätte die Enkelin Goehrs sich nicht darum bemüht, eine Website ins Leben zu rufen, welche jetzt den Namen ihrer Großmutter trägt.[4] Die dort vorhandene biografische Erzählung und die begleitenden Bilder verweisen auf ein Leben voller kreativer Fluidität und Unternehmungslust – klassische und populäre Musik, Schwerpunktverlagerung vom Musikmachen auf die Fotografie und schließlich die Produktion von Fotografen für die breite Masse sowie für etwaige Fachbücher– in den unterschiedlichen Schauplätzen Kiew, Berlin und London.

Die Karriere von Laelia Goehr war nicht unbedingt außergewöhnlich in dem Sinne, dass sie zu den großen Fotografinnen der damaligen Zeit zählen würde, von denen es so einige gab. Sie ist jedoch eine von den vielen außergewöhnlichen Frauen, wie Gerty Simon, die es trotz der Verfolgung und der Vertreibung geschafft hat, im Exil ein kreatives Leben zu führen, welches eine Zeitlang auch die Fotografie umfasste.

John March 2021


[1] Another Eye exhibition, mit dem Untertitel Women Refugee Photographers in Britain after 1933 fand Anfang 2020 in der Four Corners Gallery statt. Siehe https://www.anothereye.org für eine virtuelle Tour und Informationen.

[2] Ein weiteres herausragendes Beispiel für eine Frau, die nach dem britischen Exil erfolgreich mit der Fotografie begann, ist Dorothy Bohm. Details zu ihrem Leben und Werk finden Sie unter https://dorothybohm.com. Ein weiterer Flüchtling aus Berlin war 1933 Elsbeth Juda, die nach ihrer Ankunft in London mit der Fotografie begann und in der Modefotografie bekannt wurde. Ihre Arbeit wurde im Victoria and Albert Museum, London, gefeiert und die von ihr geschaffenen Bilder sind unter https://www.vandaimages.com/results.asp?cat1=Elsbeth+Juda&X8=12-01 zu sehen

[3] Musicians in Camera (1987), Bloomsbury, London.

[4] Siehe https://www.laeliagoehr.com – einige Texte dieser Website erscheinen in diesem Blog.

English

Laelia Goehr

by John March

The startling story of Gerty Simon’s lost and found work featured in the current exhibition, serves as a reminder of the photographic talent forced from Germany and Austria during the 1930s. Until recently the work and lives of many refugee women photographers who settled in Great Britain have been hidden from view.  A recent London exhibition revived biographical exile narratives and showed photographic work anew[i], uncovering personal and professional histories, not only celebrating the work of the better- known photographers but also those, like Gerty Simon, who had all but vanished from public sight.

The stories of the twenty women photographers who grew up in the German-speaking realm and later settled in England (mainly London), trace a complex web of forced migration in diverse circumstances, disrupted family and professional lives, and the process of starting again in a new land. For some of the better-known women photographers, like Edith Tudor-Hart, Gerti Deutsch, and Lucia Moholy, their early engagement with photography was continued in a new setting. Portraitists, like Gerty Simon, with public reputations in Berlin and Vienna – here we can think of Lotte Jacobi and Lotte Meitner-Graf – re-established their careers in New York and London respectively. For others, photography was a second-choice occupation, having had their prime careers ended by Nazi discrimination. Some young women refugees in Britain began highly successful careers in photography after having been exiled.[ii]

Taken together, the work of these photographers provides a unique insight into the ways in which Continental advances in the theory and practice of photography was then integrated into a more conservative British visual culture. The variety of genres in which they worked – portraiture, social documentary and many commercial applications – also generated images that were so resonant of both Weimar-era Germany (and Austria) and wartime and post-war Britain. 

One little-known photographic and cultural figure, who embodied the spirit of both Weimar Berlin and post-war Britain, is Laelia Goehr.  Originally from Kiev, she came to Berlin with her family as a schoolgirl, to escape the chaos and dangers of the Russian revolution, in 1919.  Building on her classical training as a pianist she enrolled in the Hochschule fűr Musik, finally graduating in 1929. In parallel with her classical musical education, she embarked on a successful career in cabaret in a double act with Rosa Goldstein, another talented young musician.  Touring as ‘Lil and Peggy Stone’ or ‘The Stone Sisters’, playing and singing American popular songs, ragtime and dance music, they enjoyed a blossoming career that brought regular work in the many cabaret spots in Berlin and other major cities of Europe.   

In 1930 Laelia met and married Walter Goehr, an established Berlin musical figure with prominent roles of composer, conductor, and arranger in classical as well as popular genres.  His work at Radio Berlin and employment as composer and conductor at Erwin Piscator’s theatre company where Laelia also played, together with his Jewish heritage, conspired to make him a marked man when the Nazi takeover of power materialised. Effectively unemployable he took up an offer of work in London, and with her husband Laelia’s second exile experience began.

With a long-standing interest in photography Laelia began to apply herself to the medium, first taking wartime portraits of servicemen and through mentorship from Bill Brandt developed a successful career. Her work spanned different genres including portraiture, photographing animals and plants, and a speciality of photographing musicians at work.  Her images were published in the mass circulation illustrated magazines of the day, she collaborated with eminent writers on books about animals, and at the end of her working life published books of her photographs of musicians. In 1965 Laelia photographed the composer Igor Stravinsky during rehearsals at the Royal Festival Hall, London on his last visit to the UK. Her photographs were later exhibited in a number of cities including Los Angeles in an exhibition to celebrate the centenary of Stravinsky’s birth (1968), and at the Victoria and Albert Museum, London, (1982) where the accompanying catalogue was published as Stravinsky Rehearses Stravinsky.  Her book, Musicians in Camera (1987), with a foreword by Sir Yehudi Menuhin, featured seventy-seven photographs of leading world figures of twentieth century classical music.[iii]  

This brief pen portrait records a life and career that was all but forgotten, but for the memorialising efforts of her grand-daughter, realised in a recently completed website which bears her grandmother’s name.[iv]  The biographical narrative and accompanying images point to a life of creative fluidity and enterprise – classical and popular music, shifting focus from making music to photography and then producing  images for popular consumption and books of specialist interest – in the wholly diverse settings of Kiev, Berlin and London.  

Laelia Goehr’s career was not exceptional, in the sense of her being counted as one of the great women photographers of the period, of which there are many. However, she is one of many exceptional women, like Gerty Simon, who, in the face of persecution and the dislocation of exile, managed to pursue a sparkling creative life that for a time included photography.  


[i] Another Eye exhibition, subtitled Women Refugee Photographers in Britain after 1933, took place at the Four Corners Gallery in early 2020. See https://www.anothereye.orgfor a virtual tour and information.

[ii] Perhaps the outstanding example of a woman who took up photography successfully after exile in Britain is Dorothy Bohm. See https://dorothybohm.com for details of her life and work. Another refugee from Berlin in 1933 was Elsbeth Juda who took up photography after her arrival in London and became prominent in fashion photography. Her work was celebrated at the Victoria and Albert Museum, London and the images she created can be seen at https://www.vandaimages.com/results.asp?cat1=Elsbeth+Juda&X8=12-01

[iii] Musicians in Camera (1987), Bloomsbury, London.

[iv]  See https://www.laeliagoehr.com – some text from that website appear in this blog.