Vor einigen Wochen hatten wir einen besonderen Besuch in der Liebermann-Villa. Familie Claussen, die ehemaligen Nachbarn von Gerty und Wilhelm Simon in London, kontaktierten uns, da sie durch eine Rezension unserer Gerty Simon-Ausstellung im Tagesspiegel auf uns aufmerksam wurden.
Wir wollten unbedingt mehr erfahren und die Claussens begannen uns auf der Terrasse der Liebermann-Villa mit Blick auf den Wannsee von ihren Erinnerungen an Gerty Simon zu erzählen.
Als junges Paar waren Frau Claussen und ihr Ehemann Berufs wegen nach London übergesiedelt. Gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn Lorenz lebten sie für zwei Jahre in der Upper Brighton Road 4 A in Surbiton, einem Vorort von London. Dort bezogen sie eine Wohnung im ersten Stock. Jedes Haus in der Nachbarschaft hatte seinen eigenen Namen, so wohnte die Familie Claussen im „Ingleside“. Im daran angrenzenden Hammergrundstück hatten Gerty und Wilhelm Simon ihr eigenes Haus gebaut; das Paar war damals schon über 70 Jahre alt. Die Simons, wie auch die Nachbarinnen und Nachbarn nannten es, da es von den Simons selbst erbaut worden war „The Grotto“ (dt. die Grotte, erzählte uns Frau Claussen.
Relativ schnell nach ihrer Ankunft, im Jahr 1962, lernte Helga Claussen Wilhelm Simon kennen. Aufgrund der großen Anstrengung, die es beide kostete, eine Konversation auf Englisch zu führen, stellten sie zügig fest, dass beide aus Deutschland kamen. So kam es, dass sich die Familien anfreundeten und sogar gemeinsam Weihnachten feierten. Am zweiten Weihnachtstag luden die Simons immer viele Gäste ein – vor allem Bekannte aus ihrer deutschen Community, sogar die Eltern der Claussens aus Hamm, Westfalen. Eine Kindheitserinnerung schilderte uns im Gespräch der Sohn der Claussens, Lorenz. Er sagte, dass er sich noch an viele Leute in einem dunklen, festlich erleuchteten Raum erinnern könne. Wie wir wissen, war Gerty Simon sehr gut vernetzt in London, das bestätigte uns auch Frau Claussen. Bei einem der besagten Weihnachtsfeste war sogar der ehemalige FAZ-Korrespondent bei den Simons zu Gast, vor allem diese Bekanntschaft blieb gut in Erinnerung.
Auch an einige Details aus dem früheren Leben der Simons konnte sich die Familie Claussen erinnern: So erzählte ihnen Wilhelm Simon, dass er in Strasbourg geboren wurde, bevor er nach Deutschland zog. Im 1. Weltkrieg war er Leutnant gewesen, wovon sich alle erhofften, für das restliche Leben ausgesorgt zu haben. Er erwähnte zudem, dass es nur im Rahmen der Wiedergutmachung durch den Deutschen Staat nach dem 2. Weltkrieg möglich geworden war, ein eigenes Haus in Surbiton zu bauen. Als er 1938 nach London gekommen war, konnte er seinem Beruf als Anwalt nicht weiter nachgehen. Zum einen war die Sprachbarriere eklatant, zum anderen musste er sich zunächst mit dem im Ausland geltenden Recht vertraut machen. Daher arbeitete er zeitweise in einer Wäscherei und in einer Bibliothek, so erzählte es Frau Claussen. Im Jahr 1947 wurde er schließlich britischer Staatsbürger.
Gerty Simon hingegen habe nicht viel von früher erzählt, nur, dass sie die Sängerin und Schauspielerin Lotte Lenya fotografiert hatte. Vielleicht betonte sie auch gerade diese Schauspielerin immer wieder, da diese Frau Claussen wohl bekannt war. In den 1960er Jahren fotografierte Simon nicht mehr und hätte auch keine Kamera mehr gehabt, meinte die ehemalige Nachbarin. In diesen Jahren hingegen malte sie „ständig.“ Die Simons hatten kein Auto, daher nutzte Gerty ihren Platz in der Garage für ihre Ölgemälde. Dort bewahrte sie die Werke aneinander gereiht an die Wand gelehnt auf. Einst porträtierte sie auch Helga Claussen und schenkte ihr das Gemälde, doch nach ein paar Wochen forderte sie es rigoros wieder ein. In unserem Gespräch wurde immer wieder betont wie vehement und durchsetzungsfähig Gerty Simon wohl gewesen sein mag – sie hatte genaue Vorstellungen von dem, was sie wollte.
Frau Claussen erzählte außerdem, dass Gerty Simon ihr einst ein Kochbuch mit den besten 161 französischen, wienerischen und englischen Gerichten geschenkt hatte. Gerty Simon behauptete es selbst verfasst zu haben. Das Kochbuch war in Kategorien unterteilt und bot auf freien Seiten Platz, die eigenen Rezepte hinzuzufügen.
Kochen tat Gerty Simon tatsächlich sehr gern und ausgiebig, wie die Claussens erzählten. Jeden Sonntag kam auch ihr Sohn Bernd zum Mittagessen vorbei. Davor schickte Gerty Frau Claussen zum Metzger, um ihr Fleisch für die Rouladen zu besorgen. Der Metzger wusste wohl schon genau, wie dünn die Scheiben zu schneiden waren, damit Frau Simon zufrieden war.
Als Wilhelm verstarb, verkaufte der Sohn Bernd das Haus und Gerty Simon lebte die letzten vier Jahre in einer Wohnung in unmittelbarer Nähe ihres Sohnes.
Zum Ende unseres Treffens hin tauscht sich die Familie Claussen über weitere Nachbarn in Surbiton aus. Der Sohn Lorenz Claussen erinnert sich an deren unmittelbar angrenzenden Nachbarn – wohl auch eine Deutsche, die einen Briten geheiratet hatte – und kontaktierte direkt deren Sohn. Das einzige jedoch, woran dieser sich noch erinnern konnte, ist, dass seine Familienkatze die Meerschweinchen der Simons gefressen hatte und dies einen sehr großen Eklat ausgelöst hatte.
Wir haben uns sehr über den Besuch der Familie Claussen und das Kennenlernen bei uns am Wannsee gefreut. Das Gespräch auf der Terrasse weckte Erinnerungen und ließ uns weiter in die Welt der Simons eintauchen. Genau das ist es, was wir uns von unserer Ausstellung Gerty Simon. Berlin/London. Eine Fotografin im Exil“ erhofft hatten – weitere Lücken in der Vita Gerty Simons schließen zu können.
Viktoria Krieger führte das Gespräch mit Helga Claussen, ihren Kindern und ihrer Enkelin. Den Blogbeitrag hierzu verfasste Wanda Pösselt.