Über 350 großformatige Silbergelatineabzüge, Material zu Ausstellungen, Einladungen und Presseberichte – das Archiv der in Vergessenheit geratenen deutsch-jüdischen Fotografin Gerty Simon ist ein beachtliches Konvolut der Wiener Holocaust Library. Es zeugt von ihrem Karriereanfang, ihren vielen Erfolgen im Berlin der 1920er Jahre bis hin zur nationalsozialistischen Machtergreifung und Gerty Simons Emigration nach England.
Nach der erfolgreichen Präsentation der Londoner Wiener Holocaust Library 2019 widmet die Liebermann-Villa am Wannsee der beeindruckenden Fotografin im Frühjahr 2021 ihre erste Ausstellung nach 90 Jahren im deutschsprachigen Raum. Wie sich Karriere und Leben von Gerty Simon entfalteten, stellt unsere wissenschaftliche Volontärin, Viktoria Bernadette Krieger, bereits jetzt im Rahmen der Blogparade „Frauen und Erinnerungskultur“ | #femaleheritage der Münchner Stadtbibliothek Monacensia im Hildebrandhaus vor.
Wer war Gerty Simon?
Gerty Simon (1887 in Bremen-1970 in London) galt laut Max Osborn, Kunsthistoriker und Journalist, als eine der bedeutendsten „[…] Berliner Lichtbildkünstlerinnen […]“[1] ihrer Zeit. Sie pflegte zahlreiche Kontakte zu Künstler:innen und baute sich ein breites Netzwerk in Berlin auf. Gerty Simon porträtierte die wichtigsten Persönlichkeiten der Weimarer Republik. Sie widmete sich der Berliner Kunst- und Kulturszene, der Politik und der Wissenschaft. Trotzdem scheint sie heute fast in Vergessenheit geraten zu sein. Ihr spannendes Leben und ihr Archiv zeigen, dass es höchste Zeit für ein Aufleben ihrer Erinnerung ist.
Die „Goldenen Zwanziger“ in Berlin
In Berlin-Mitte flanierte das Bürgertum. Auf dem Potsdamer Platz pulsierte das Leben. Nach dem ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe erholte sich Berlin. Die Begeisterung für Kinofilme und Live-Musik war groß. Für einige spielte sich das Leben in den Tanzlokalen und den mondänsten Cafés der Stadt ab. Die Großstadt Berlin war neben New York und London zu einer der größten und bevölkerungsreichsten Städte herangewachsen. In der Metropole der „Stadt der Bilder“ wurden viele professionelle Fotoateliers von Frauen geführt. So entdeckte auch die 1887 in Bremen geborene Gertrud Cohn, die sich Gerty nannte, in Berlin das Medium der Fotografie für sich.
Das Fotoatelier von Gerty Simon
In Berlin-Charlottenburg in der Clausewitzstraße 2, in der Nähe des Kurfürstendamms, bezog Gerty Simon mit ihrem Ehemann Wilhelm Simon eine Wohnung. Dort öffnete sie auch ihr erstes eigenes „Photographisches Studio“. Obwohl sie höchstwahrscheinlich keine klassische fotografische Ausbildung absolvierte, machte sie sich mit ihren technisch brillanten Aufnahmen im Berlin der 1920er Jahre einen Namen. Gerty Simon veröffentlichte schon 1922 die ersten Fotografien in der Illustrierten Neuen Zeit. Es folgten weitere Pressebeiträge in den Beilagen des Berliner Tageblatts und der Vossischen Zeitung. In diesen Jahren wuchs das Angebot an Illustrierten stetig und somit auch Gerty Simons Fotoaufträge. Die zeitgenössische Presse wie das Tempo, Scherls Magazin, Das Leben, Neue Revue, der Photo-Spiegel, Berliner Hausfrau und der Querschnitt erwähnten sie als Fotografin und druckten ihre Arbeiten.
Gerty Simon war eine unter vielen deutsch-jüdischen Fotografinnen der Weimarer Republik, die zunächst in Vergessenheit geraten sind. In der Blogparade #femaleheritage werden auch die Fotografinnen-Schwestern Nini (1884-1943?) und Carry Hess (1889-1957) vorgestellt. Sie schufen in ihrem Frankfurter Atelier beeindruckende Porträts und widmeten sich außerdem der Bühnenfotografie. Das Museum Giersch plant im Herbst 2021 eine Ausstellung über die damals überregional bekannten Frauen, die aktuell im Fokus der Forschung des Museums stehen.
Ausstellungen in Berlin
In einer Zeit in der das Frauenwahlrecht erst wenige Jahre zuvor eingeführt worden war und Künstlerinnen um ihr Mitspracherecht kämpften, war Gerty Simon in den 1920er Jahren bereits gut vernetzt und als Fotografin aktiv. Ihre erste Solo-Ausstellung mit einer Auswahl an photographischen Porträts veranstaltete sie in ihrem Fotoatelier in der Clausewitzstraße. 1929 reiste Simon nach Paris und lichtete dort im Auftrag der Deutsch-Französischen Rundschau die bedeutendsten Zeitgenossen aus Politik, Wirtschaft und Kultur ab. In ihrer Ausstellung Geistiges Berlin, geistiges Paris zeigte sie etwa 100 Porträtfotografien in den hellen, neuen Räumen des Kunstsalons Marta Görtels in der Passauerstraße 2. Sie stellte einen „reizvollen Querschnitt […]“[2] der Berliner Köpfe den Porträts der Pariser:innen gegenüber.Für die Sektion des geistigen Berlins wählte sie Autoren, Verleger, Schauspieler:innen, Wissenschaftler, Politiker und Künstler:innen, von denen viele auch später ins Exil gingen. Ebenfalls in dieser Ausstellung wurden Porträts von Albert Einstein, Renée Sintenis, Käthe Kollwitz, Lotte Lenya, Max Slevogt und Max Liebermann präsentiert. Im Herbst 1929, kurz vor der Ausstellungseröffnung, hat Gerty Simon den 82-jährigen Künstler in seinem Palais am Pariser Platz besucht, um ihn dort zu fotografieren. Das Dankesschreiben von Liebermann bewahrte sie ihr Leben lang auf.
In ihren Arbeiten der späten 1920er Jahre experimentierte die Fotografin auch mit dem fotografischen Abbild der modernen „neuen Frau“ der Weimarer Republik ebenso wie die Hess-Schwestern in Frankfurt. Porträtfotografie diente in erster Linie der Selbstpräsentation, Gerty Simons Porträts heben „ihr Verständnis für den Menschen und seine Eigenheiten“[3] hervor. So wirken ihre Bilder „niemals […] gestellt oder [wie] virtuose Blender“[4], hieß es 1928 im Film-Kurier.
Ausstellungen deutschlandweit
1929 folgten weitere Ausstellungen auch deutschlandweit. Aus einem im Archiv erhaltenen Pamphlet wird deutlich, dass Gerty Simon auch im November 1929 in der Magdeburger Station der Gruppenausstellung Fotografie der Gegenwart ausstellte. Diese Wanderausstellung gilt als eine der wichtigsten Fotografie-Ausstellungen der Moderne und setzte Maßstäbe für modernes Design. Die Ausstellung war vom Städel Museum initiiert worden und die besten Fotograf:innen sendeten ihre Arbeiten ein. Auch Bauhäusler:innen wie beispielsweise László Moholy-Nagy, Lucia Moholy und Walter Peterhans sowie die Dada-Künstler Kurt Schwitters und Man Ray waren neben Gerty Simon dort vertreten. In München im Juni 1930 nahm Gerty Simon an der Wanderausstellung Das Lichtbild, die als Antwort auf die Stuttgarter Werkbund-Ausstellung Film und Foto verstanden wurde, teil. Bei Wertheim in Berlin veranstaltete der deutsche Staatsbürgerinnenverband im Oktober 1930 eine Ausstellung Die gestaltenden Frau. Simon war ebenfalls Teil dieser Schau und wurde für ihre Fotos in der zeitgenössischen Presse gelobt, wie beispielsweise in der Berliner Volkszeitung: „dass Photographieren Kunst ist, beweis[t] die Porträtistin […] Gerty Simon[…].“[5]
Neubeginn im britischen Exil
Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren fühlte sich Gerty Simon als jüdische Fotografin in Deutschland zunehmend bedroht. Sie hatte vor allem Sozialdemokraten und antifaschistische Persönlichkeiten Berlins abgelichtet und diese sogar in der Öffentlichkeit ausgestellt. Um der Gewaltherrschaft des Naziregimes zu entfliehen, kehrte sie nach der Machtergreifung Hitlers 1933 ihrer Heimat den Rücken und ging mit ihrem Sohn ins britische Exil.
Aus dem Archivmaterial lässt sich schlussfolgern, dass die Fotografin ihre Emigration sehr strategisch vorbereitet hatte. Erhaltene Dokumente aus dem Nachlass in London geben uns Aufschluss darüber. Möglicherweise montierte sie noch in Berlin Zeitungsausschnitte, in denen ihre Arbeiten lobend erwähnt wurden, auf Karton und ordnete ihnen systematisch Titel und Datum zu. Gerty hatte alle Presseerwähnungen akribisch gesammelt und einige davon sogar ins Englische übersetzt. Es scheint fast, als hätte sie ein Portfolio vorbereitet. Um in London als Fotografin Fuß zu fassen, kontaktierte sie dort den erfolgreichen und gut vernetzten Fotografen Francis Brugière (1879-1945) und bat ihn um ein Empfehlungsschreiben. Gerty Simon scheint ihn mit ihren Arbeiten schwer beeindruckt zu haben, denn er behauptete „greatly stimulated“ zu sein: er kenne „no photographer […] who makes portraits of such high quality”.
In der Church Street 36 in Chelsea, im heutigen Londoner Nobelviertel, ließen sich Gerty Simon und ihr 12-jähriger Sohn Bernd (1921-2015) nieder. Dort eröffnete sie wieder ein eigenes Fotoatelier und verfolgte ihre Porträtfotografie. Wir wissen von zwei britischen Ausstellungen: 1934 London Personalities und die von Alfred Flechtheim kuratierte Schau Camera Portraits von 1935. In der Tagespresse wurde Gerty überwiegend gelobt beispielsweise als „[a] brillant photographer […].“[6]
Ab 1936 haben wir keine Anhaltspunkte mehr, ob Gerty Simon weiter als Fotografin tätig war. Da sich die Lage in Großbritannien auch zuspitzte, gehen wir davon aus, dass sich Gerty nach und nach aus der Öffentlichkeit zurückzog. Als Folge der Novemberpogrome 1938 emigrierte schlussendlich auch ihr Ehemann Wilhelm Simon nach London. Ihr Sohn Bernd Simon hatte zwischenzeitlich eine Ausbildung als Buchhalter begonnen und musste diese jedoch kriegsbedingt 1940 abbrechen. Aufgrund der britischen „appeasement policy“ wurden Bernd und sein Vater wegen ihrer Herkunft als „enemy aliens“ inhaftiert. Wilhelm wurde auf die britische Insel die Isle of Man verbracht und Bernd sogar bis nach Australien nach Hay Lager in ein Internierungslager. Trotz der Distanz versuchte Bernd seinen Eltern eine zweite Emigration nach Amerika zu ermöglichen. All seine Anstrengungen scheiterten jedoch und somit blieben die Simons in England. Trotz der Schicksalsjahre überlebten alle drei Familienmitglieder den Krieg. 1947 erhielten Gerty und Wilhelm Simon sogar die britische Staatsbürgerschaft. Die gemeinsamen Jahre nach dem Krieg verbrachten sie in ihrem Haus in Surbiton, einem Vorort von London.
Der Nachlass von Gerty Simon in London
Gerty Simons Nachlass befindet sich dank einer Schenkung ihres Sohnes Bernd Simon in der Wiener Holocaust Library in London. Er hinterließ das fast vollständig erhaltene Archiv seiner Mutter. Neben den 350 großformatigen Silbergelatineabzügen und den vielfältigen Dokumenten fand das Team der Bibliothek auch zahlreiche Zeitungsausschnitte, in denen Gerty Simon als Fotografin lobend Erwähnung fand. Diese „Press cuttings“ geben uns heute aufschlussreiche Informationen über ihre Karriere als deutsch-jüdische Fotografin in Berlin und London. 2019 veranstaltete die Wiener Holocaust Library eine Ausstellung zum Leben und Werk Gerty Simons. Unter anderem startete die Bibliothek auf flickr eine digitale Identifizierungsaktion der von Gerty Simon abgelichteten Persönlichkeiten.
Als Antwort auf die erfolgreiche Londoner Präsentation widmen auch wir Gerty Simon eine Schau – und das etwa 90 Jahre nach ihrer letzten Berliner Ausstellung. Mit unserer Sonderausstellung Gerty Simon Berlin / London. Eine Fotografin im Exil holen wir ihre Fotografien nach Berlin zurück. Wir wollen ihr Leben und Werk wieder ins kollektive Gedächtnis der Stadt rücken.
Gerty Simon reiht sich in die Riege vieler weiblicher Persönlichkeiten ein, die in den knapp 100 Beiträgen der Blogparade #femaleheritage beleuchtet werden. Sie erinnern daran wie vielseitig, kreativ und beeindruckend Lebensentwürfe von Frauen waren und bis heute sind. Umso wichtiger ist es, den gemeinsamen Anspruch zu verfolgen, das Werk und Wirken von Frauen stets sichtbar zu machen. Auf die Präsentation von Gerty Simon in der Liebermann-Villa am Wannsee freuen wir uns daher besonders.
Gerty Simon. Berlin / London. Eine Fotografin im Exil
Frühjahr 2021
Liebermann-Villa am Wannsee, Colomierstraße 3, 14109 Berlin
www.liebermann-villa.de
Haben Sie einen Hinweis zu Gerty Simons Leben und Werk? Dann freuen wir uns über eine Nachricht an: info@liebermann-villa.de
[1] Max Osborn, Rezension über Gerty Simons Atelier-Ausstellung 1928, Vossische Zeitung, 23. November 1928.
[2] W. H. Stern, „Porträtausstellung Gerty Simon“, Neue Zeit, 11. November 1928.
[3] Nicht weiter zu bestimmende, zeitgenössische Rezension aus Gerty Simons Archiv aus der Wiener Holocaust Library.
[4] „Menschen auf Bildern“, Film-Kurier, 12. November 1928.
[5] Senta Neckel, „Die gestaltende Frau. Ausstellung des deutschen Staatsbürgerinnenverbandes“, Berliner Volkszeitung, 21. Oktober 1930.
[6] „A Brilliant photographer“, The Sunday Times, 18. November 1934.
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