Ein sehr „menschliches“ Biergarten-Gemälde von Max Liebermann in der Neuen Pinakothek in München

Unser achter Teil der Gastblogging-Reihe „Wir feiern Liebermann!“ wirft einen Blick auf Max Liebermanns Zeit in München.

In seinem zweiten Beitrag betrachtet Dr. Joachim Kaak, verantwortlicher Referent für die Neue Pinakothek in München, Max Liebermanns Münchner Biergarten von 1884 bis ins kleinste Detail.

Max Liebermann in München

Max Liebermann kam 1878 im Alter von 31 Jahren nach München.[i] Der nicht mehr ganz junge Maler hatte zuvor in Berlin Zeichenunterricht genommen und in Weimar an der Kunstschule studiert. Die Schule von Barbizon hatte ihn nach Frankreich gelockt und die Landschaftsmalerei der Haager Schule hatte er auf seinen Reisen nach Holland kennengelernt. In München faszinierte ihn aber nicht nur die Malweise, sondern wohl auch die genaue Beobachtung, mit der Wilhelm Leibl, aber auch Künstler wie Franz von Defregger Menschen und Situationen in ihren Gemälden einfingen. Ein solches Bild, ein Bild über Menschliches und Allzu-Menschliches ist der Münchner Biergarten.[ii]

Abb. 1 Max Liebermann, Münchner Biergarten, 1884, Öl auf Holz, 94,7 x 68,7 cm, 1986 gemeinsam mit dem Ernst von Siemens Kunststiftung aus dem Kunsthandel erworben, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek, München, Inv. Nr. 14979/ESK 3, URL: https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artwork/JzG6zKEGWO/max-liebermann/muenchner-biergarten, (Zuletzt aktualisiert am 28.06.2021), © CC BY-SA 4.0

Das Biergarten-Sujet

Das Sujet ist oft benannt worden: es ist eine Szenerie ähnlich dem Augustiner Biergarten in München, einem Ort, an dem Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zusammenkommen, um Geselligkeit und Muße zu genießen. Die Musikkapelle hat der Künstler hinzugefügt, wie auch die Stühle eher auf sein Atelier hinweisen als auf eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Lokalität. Aber mehr noch als die im Atelier konstruierte Realität, das impressionistische Lichtspiel auf dem Boden und der zügige Pinselduktus muss das Gemälde der Neuen Pinakothek durch die subtile Erzählweise faszinieren, mit der Liebermann nicht nur ein Panorama der Münchner Gesellschaft auffächert, sondern gleichsam verhaltenspsychologisch in die Tiefe derselben vordringt. Es lohnt daher, das Bild genauer zu betrachten.

Da sind zunächst Hut, Stock und Taschentuch, die beiläufig und leicht zu übersehen links neben dem Baum auf und an einem leeren Stuhl zurückgelassen worden sind. Schaut man genau hin, so sind in dem Hut die Initialen M. L. zu erkennen, als habe der Künstler diese drei Dinge nur kurz abgelegt, um eben genau die Szene zu erfassen, die im Bild wiedergegeben ist.

Abb. 2 Max Liebermann, Münchner Biergarten, 1884, (Detail)

Momente flüchtiger Wirklichkeit

Es ist eine kleine Geste scheinbarer Authentizität, die durch weitere Momente einer flüchtigen Wirklichkeit beglaubigt wird. Da ist das Kind in rotem Kleid, das in seinem Spiel mit einem Luftballon kaum Zeit für eine Trinkpause findet, so dass das Kindermädchen das Glas an seinen Mund halten muss. Rechts daneben hat sich eines der beiden in Weiß gekleideten Mädchen entschieden, ihre Puppe beiseite zu legen, um gleich mit beiden Händen in dem viel interessanteren Schmutz am Boden zu spielen. Ihre Schwester – das ähnliche Erscheinungsbild bis hin zu den gleichfalls hellblonden Haaren legt dies nahe – ist dagegen noch zögerlich, wenn nicht erschrocken angesichts dieser schockierenden Eigenmächtigkeit und dem damit zwangsläufig einhergehenden Ruin des Sonntagskleides.

Vergleich mit Darstellungen des Tuileriengartens von Édouard Manet und Adolf Menzel

Bei aller Lebensnähe ist die Szene doch ein Zitat. Sie findet sich so z. B. in den Darstellungen des Tuileriengartens bei Édouard Manet und Adolf Menzel aus den Jahren 1862 und 1867, die sich beide heute in der National Gallery in London befinden. Liebermann jedoch spitzt die Szene über die genaue Beobachtung hinaus mit distanzierter Ironie zu einer Entscheidung zwischen kindlichem Gehorsam und natürlicher Spielfreude zu – Herkules am Scheideweg als Kinderspiel.

Abb. 3 Édouard Manet, Musik im Tuileriengarten, 1862, Öl auf Leinwand, 76,2 x 118,1 cm, Inv. Nr. NG3260, URL: https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/edouard-manet-music-in-the-tuileries-gardens, (Zuletzt aktualisiert am 28.06.2021), ©CC BY-NC-ND 4.0
Abb. 4 Adolf Menzel, Nachmittag im Tuileriengarten, 1867, Öl auf Leinwand, 49 x 70 cm, Inv. Nr. NG6604, URL: https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/adolph-menzel-afternoon-in-the-tuileries-gardens, (Zuletzt aktualisiert am 28.06.2021), ©CC BY-NC-ND 4.0

Dennoch: die beiden Szenen flankieren nur die kühne Leerstelle auf der Mittelsenkrechten des Bildes, die einlädt, Platz zu nehmen und die versammelte Gesellschaft weiter zu studieren. Es ist der leere Stuhl, der durch den Ellenbogen des Herrn zur Linken leicht nach vorne und nach außen gekippt wird. Die Geste hat Aufforderungscharakter, denn der Stuhl markiert einen freien Platz neben der jungen Frau zur Rechten, die, so ist anzunehmen, von ihren Eltern begleitet wird. Das versteinerte Gesicht der Mutter neben ihr mag dabei das Ausbleiben eines Bewerbers kommentieren, während sich die offensichtlich noch unverheiratete junge Frau mit leicht geröteten Wangen in ihr Nähzeug vertieft.  

Abb. 5 Max Liebermann, Münchner Biergarten, 1884, (Detail)

Die Blicke der Dargestellten

Überhaupt die leeren Stühle: ein dritter Stuhl ist am rechten Bildrand freigeblieben. Ein Damenschirm und ein Schultertuch deuten darauf hin, dass sich die Besitzerin auch hier nur kurz entfernt hat. Anzunehmen ist, dass es sich dabei um die Mutter der beiden Mädchen handelt, von denen eines eben den Moment der Freiheit zu seinem unbeschwerten Spiel nutzt. Mit verträumtem Blick verfolgt eine junge Frau, möglicherweise handelt es sich um die jüngere Schwester der Abwesenden, die Szene, dabei wohl über Werbung, Heirat und auch Mutterschaft sinnierend. Fraglich bleibt, ob sie sich der Aufmerksamkeit bewusst ist, die ihr ein junger Soldat wenige Plätze hinter ihr schenkt, oder ob sie mit ihrer Pose nicht kokett deutlich macht, dass sie für Avancen empfänglich sei.  

Abb. Max Liebermann, Münchner Biergarten, 1884 , (Detail)

Kein fröhliches Bild

Max Liebermanns Münchner Biergarten ist kein fröhliches Bild. Die Stimmung des sonnigen Nachmittags ist unterlegt von unerfüllten Träumen und enttäuschten Hoffnungen bis hin zu den herunter gezogenen Mundwinkeln der abgearbeiteten Wirtsfrau, die dem Herrn im Zylinder links neben ihr kaum zuhören mag. Die leeren Stühle sind dabei Platzhalter der Imagination; sie bieten einer Geschichte Raum, die durch den Betrachter selbst erzählt werden muss und die dadurch, wenn nicht so geschehen, doch immer wahr ist.

Liebermann verabschiedete sich mit diesem Bild von München und kehrte im gleichen Jahr nach Berlin zurück.

Dr. Joachim Kaak ist seit 2003 verantwortlicher Referent für die Neue Pinakothek in München und betreut die Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.


[i] Siehe für das Folgende z. B. „Max Liebermann. Wegbereiter der Moderne“, Ausst. Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn/Hamburger Kunsthalle, Köln 2011, S. 190-208.

[ii] Siehe auch für das Folgende „Deutsche Künstler von Marées bis Slevogt“, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek München, Gemäldekataloge Bd. VIII/2; München 2003, S. 150-154.