Ein Brief aus England

Anfang Juni erreichte die Liebermann-Villa ein Brief aus Nordengland, der eine besondere Geschichte erzählt, die berührt und Hoffnung gibt.

In diesem Brief bot die 92-jährige Absenderin – Mrs. Philipps aus Manchester – unserem Haus eine Liebermann-Biographie an. Dieses 1930 herausgegebene Buch von Hans Ostwald war eines der ersten, die das Leben und das Werk von Max Liebermann beschrieb. Die Biographie enthält Reproduktionen von 270 Gemälden und graphischen Arbeiten Max Liebermanns sowie eine reproduzierte handgeschriebene Widmung. Mrs. Phillips hatte vor, Berlin zu besuchen. Zum Buch selbst schrieb sie: „niemand wird es nach mir lesen … könnte das Buch bei Ihnen ein Heim finden?“.

Das Liebermann-Buch
Hans Ostwald, Das Liebermann-Buch (Berlin, 1930)

Das Buch war uns schon bekannt, da sich aber – wie im Brief deutlich wurde – hinter diesem Band eine besondere Geschichte verbarg, luden wir Mrs. Philipps im Rahmen ihres Berlin-Besuches in die Liebermann-Villa ein. Ende Juni kam sie mit ihrem Sohn und einem befreundeten Ehepaar an den Wannsee. Sie übergab uns das Buch und erzählte seine Geschichte.

Mrs. Philipps stammt aus einer jüdischen Berliner Familie. Als sie 1939 als 15-jähriges Mädchen mit einem so genannten „Kindertransport“ das nationalsozialistische Deutschland nach England verlassen konnte, gab ihr Vater ihr diese Liebermann-Biographie mit, zusammen mit einer Richard-Wagner-Biographie und Thomas Manns Roman Buddenbrooks.

Diese Transporte, „Auswanderungen“, wie Mrs. Philipps sie in dem Brief nennt, waren die Rettung vieler jüdischer Kinder. Die britische Regierung hatte als Reaktion auf die Novemberpogrome 1938 die Einreisebestimmungen gelockert und beschlossen, verfolgte jüdische Kinder nach England zu holen. So entkam auch Mrs. Philipps der Deportation in ein Vernichtungslager. Sie ist die Einzige ihrer Familie, die den Holocaust überlebt hat.

Ihr ganzes Gepäck ist auf der Überfahrt verlorengegangen. Nur die drei Bücher, die ihr Vater ihr direkt ins Handgepäck mitgab, sind ihr geblieben. Und erst jetzt, so sagt sie, mit dem Abstand von vielen Jahren, hat sie die Bücher gelesen und erkannt, dass ihr Vater ihr wohl die Erinnerung an deutsche Künstler, die er verehrt hat, vermitteln wollte: den Maler Max Liebermann, den Komponisten Richard Wagner und den Schriftsteller Thomas Mann – kulturelle Bezüge zu bildender Kunst, Musik und Literatur.

Das Liebermann Buch

Mit ihrem Besuch in der Liebermann-Villa hat Mrs. Philipps für sich auch einen Teil des Vermächtnisses ihres Vaters angenommen. Denn es war bewegend zu sehen und mitzuerleben, mit welchem Interesse, mit welcher Freude sie sich im Museum die Bilder von Max Liebermann angeschaut hat. Besonders haben sie die Bilder der Wannsee- und Havellokale in der laufenden Sonderausstellung Max Liebermann: Biergärten und Caféterrassen begeistert. Denn sie weckten Erinnerungen an Zeiten, als sie selbst als Kind mit ihrer Familie und Freunden Gast war auf genau denselben Caféterrassen.

So war für Mrs. Philipps – wie sie sagte – der Besuch in der Liebermann-Villa am Wannsee in mehrfacher Hinsicht ein besonderes Erlebnis. Aber auch für uns war dieser Besuch ein besonderer Besuch. Das von ihr überreichte Buch ist vor dem Hintergrund dieser Geschichte auch ein besonderes Buch, das jetzt tatsächlich ein Heim gefunden hat: in der Bibliothek der Liebermann-Villa am Wannsee.


Autorinnen: Marga Quiring und Dr. Lucy Watling

Marga Quiring arbeitet ehrenamtlich in der Liebermann-Villa.
Dr. Lucy Watling ist wissenschaftliche Volontärin der Liebermann-Villa