Das Motiv der Näherin bei Liebermann und Van Gogh

Die aktuelle Sonderausstellung „Liebermann und Van Gogh“ zeigt, wie verblüffend ähnlich das malerische Interesse von Max Liebermann und Vincent van Gogh in den Jahren 1882 bis 1884 war. Beide stellten Handwerker dar, Weber, Feldarbeiter, Pflüger und Mittagszenen zu Tisch. Ein weiteres gemeinsames Motiv bilden nähende Frauen am Fenster. Ein direkter Vergleich zweier Werke veranschaulicht, wie unterschiedlich beide Maler zeitgleich mit ein und demselben Motiv umgegangen sind.

Max Liebermann Stopfende Alte am Fenster, 1880 © Privatbesitz, Foto: Tammo Ernst
Max Liebermann
Stopfende Alte am Fenster, 1880, Privatbesitz,
Foto: Tammo Ernst

Sowohl Van Goghs Aquarell „Die Näherin beim Fenster“ von 1881 als auch Liebermanns „Stopfende Alte am Fenster“ (1880) zeigt eine ältere Frau an einem Fenster, die mit Näh- bzw. Stopfarbeiten beschäftigt ist. Während Van Gogh hier am Anfang seiner künstlerischen Tätigkeit ist und noch mit dem Finden der richtigen Proportionen beschäftigt ist, zeigt Liebermanns Ölgemälde eine gekonnte Bildkomposition, die sich an den Vorbildern der niederländischen Malerei des Goldenen Zeitalters orientiert. Nicht umsonst ist dieses Gemälde eines der bekanntesten und populärsten Liebermanns geworden. Das hereinflutende Licht und der Ausblick auf die leuchtend grüne Natur draußen schaffen eine Atmosphäre, die Mensch und Umgebung zu einer Einheit werden lässt. Zwar ist alles auf die Arbeit bezogen, dennoch regt das Gemälde die Phantasie des Betrachters an. Der Blick schweift durch das Zimmer, die auf der Fensterbank und auf dem Stuhl liegenden Nähutensilien – das Gemälde erzählt eine Geschichte.

Vincent van Gogh Die Näherin beim Fenster, 1881 Aquarell (Zeichnung),  Privatbesitz, Foto: Patrick Goetelen
Vincent van Gogh
Die Näherin beim Fenster, 1881
Aquarell (Zeichnung), Privatbesitz,
Foto: Patrick Goetelen

Der Autodidakt Vincent van Gogh stellt ein Jahr später ebenfalls eine Näherin am Fenster dar. Hier scheint die Situation der Heimarbeiterin weniger idyllisch als in der zuvor besprochenen Bildkomposition. Die Frau sitzt in einem kargen Raum, ihr Blick aus dem Fenster zeigt die Fassade des Nachbarhauses. Alles ist auf die Arbeit konzentriert: Interieur und Frau werden in einen sachlichen, nur durch den Arbeitsvorgang bestimmten Zusammenhang gebracht und in gedeckten Farben dargestellt. Ähnlich wie bei Liebermann fehlt jeder Hinweis auf Wohnlichkeit oder andere Funktionen des Raumes. Im Jahr 1881, Van Gogh ist gerade mal ein gutes Jahr als Künstler tätig, beschäftigt er sich vor allem mit figürlichen Studien. Das verhärmte Gesicht der Näherin und die Kargheit des Raumes sowie der nüchterne Blick auf die Häuserfassade könnten ein Hinweis sein auf sein soziales Engagement. Während sich also Liebermann in dieser Bildkomposition vor allem für die Farbigkeit und das Licht interessiert, rückt Van Gogh stärker die sozialen Verhältnisse in den Vordergrund – ein wesentlicher Unterschied in der Malerei von Liebermann und Van Gogh.


Autorin: Dr. Julia Klarmann

Dr. Julia Klarmann ist wissenschaftliche Volontärin in der Liebermann-Villa am Wannsee